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Ein Kommentar von Bernhard Schüßler

Was kann man in 8 Minuten und 46 Sekunden machen? Man kann ein Bier im Biergarten trinken, 4 der 7 Tore im epischen 7:1 von Deutschland gegen Brasilien, in der WM 2014 bejubeln oder wie wir seit knapp 2 Wochen wissen, einen unschuldigen Menschen erwürgen, ohne sich die Hände schmutzig zu machen, nur in dem man sich auf den Hals des Opfers kniet.

Natürlich gehört eine gehörige Portion Hass, Sadismus, Bösartigkeit dazu, um so etwas tun zu können. Schon das Video zu sehen ist eine Zumutung, die kaum jemanden nicht in Tränen ausbrechen lässt. Das Opfer, ein 46-jähriger Mann, schreit um Hilfe, bettelt zu Gott, seiner Mutter und seinem Mörder. 3 weitere Polizisten schauen zu, sie tun nichts, sie kommen nicht auch nur 1 Sekunde lang auf die Idee, diesen Mann wie einen Menschen zu behandeln, sie hätten 526 Sekunden davon gehabt. Dass wir gegen diese Untat und sie als nur eine von vielen, strukturelle Benachteiligungen anprangern, ist nur dem Zufall geschuldet, dass dieses Mal ein Video davon zu sehen ist, sonst wäre George Floyd wie unzählige andere, unbemerkt gestorben, in Akten verschwunden.

Dieser Polizist hat nicht nur George Floyd mit seinem Knie auf dessen Kehle, trotz bettelnden Hilferufen oder gerade deshalb, getötet. Er hat Wunden aufgerissen, die auf einer über 400-jährigen Geschichte von scheinheilig begründetem, systematischem Unrecht basieren, aufgerissen.

Sind die USA eine Demokratie? Ich zumindest sage, bis 1964 als die Segregationsgesetze abgeschafft wurden, war sie es zumindest nicht vollwertig.

Und auch danach, wurde es kaum besser. Als Martin Luther King 1968 ermordet wurde, gab es Proteste gegen Rassismus. Der damalige Republikanische Präsidentschaftskandidat Richard Nixon sagte, dass es Kommunisten und linksextreme seien und gewann damit die Wahl. Trump versucht es ihm gleich zu tun. Die Rechte in den USA hat ihren Aufschwung maßgeblich auf dem Konzept der sog. white supremacy, also der weißen Vorherrschaft oder Überlegenheit aufgebaut. Seit Obamas Amtsantritt hat sie daran gearbeitet, dieses Zeichen, dass Schwarze endlich einigermaßen als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft anerkannt würden, zu zerstören. Mit Erfolg, wie wir heute wissen. Schwarze in den USA werden fast 3 mal öfter als weiße von der Polizei getötet, sind öfter in Gefängnissen, haben keine Krankenversicherung und Versorgung, wie die deutlich höhere Sterberate aktuell in der Corona-Krise zeigt und werden in ihrem Wahlrecht eingeschränkt, in dem mehrheitlich von Schwarzen bewohnte Wahlbezirke, weniger Wahllokale haben.

Das alles muss unglaublich belastend und verstörend sein. Die fehlende Anerkennung, aufgrund der Werte oder Leistungen als wichtiger Teil der Gesellschaft angesehen zu werden, sondern aufgrund der Hautfarbe von ihr ausgeschlossen zu werden, verursacht mindestens Wut, wenn nicht Ablehnung und Unglauben an die demokratischen Institutionen.

Rassismus betrifft uns alle. Wer jetzt nur in die USA blickt, verschließt die Augen vor alltäglichem Unrecht, das auch in Deutschland verübt wird.

Es geht sehr wohl die Gesamtgesellschaft etwas an, auch wenn man nicht den Schmerz nachempfinden kann, wie es ist, in seinem eigenen Land nicht als gleichwertige*r Bürger*in anerkannt zu werden, weil man „undeutsch“ aussähe.

Ich habe schon mit vielen Rassisten gesprochen, meist unschöne Begegnungen. Keiner von ihnen konnte mir glaubwürdig versichern, dass als die Autor*innen des Grundgesetzes Dinge wie: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Aufgabe aller staatlichen Gewalt.“ Eigentlich ausschließlich weiße Menschen gemeint haben.

Keiner konnte mir erklären, wieso Bürgerrechte wie Wahlrecht, Versammlungs- und Meinungsfreiheit, nur für „Bio-Deutsche“ gelten sollten.

Wir brauchen eine neue Definition über das, was uns zu Deutschen macht.

Ich verstehe auch nicht, wieso die Menschen, die hier geboren wurden oder schon seit Generationen hier leben, immer noch aufgrund ihres Aussehens als Afro-Deutsche bezeichnet werden, genau wie in den USA als Afro-Amerikaner, obwohl seit den 1860er Jahren keine nennenswerten Migrationsströme aus Afrika in die USA erfolgt sind. Nenne ich weiße US-Bürger etwa Europa-Amerikaner? Nein. Auf die Idee kommt keiner, denn sie definieren und identifizieren sich ausschließlich als US-Bürger*innen. Wieso haben Schwarze in den USA nicht dieses Recht? Der Zusatz Afro-, verursacht bei mir den Beigeschmack, dass sie doch nicht so ganz dazugehören.

Ein weiteres Pseudoargument rassistischer Menschen ist, dass diese Minderheiten nicht dasselbe für die Gesellschaft leisten würden wie alteingesessene Bürger. Diese ekelhafte Aussage, werde ich mit einem plastischen und fast zu platten Beispiel kommentieren:

Jérôme Boateng hat einen WM-Titel gewonnen und damit einen weit größeren Mehrwert für die Gesellschaft erbracht, als es jeder biodeutscher AFD-ler je tun wird.

Und zum Schluss zurück zum Beispiel von oben. Der Nachsatz des Art1 GG lautet: „sie (also die Würde) zu achten und zu schützen ist Aufgabe aller staatlichen Gewalt.“ Hier spricht der Politikwissenschaftler aus mir, aber welche staatliche Gewalt in einer Demokratie ist stärker als der Souverän also die Bevölkerung selbst? Das heißt, dass Antirassismus nicht nur in den Schulen und im Parlament gelebt, sondern auch und v.a. auf der Straße, in der Bahn, wo auch immer uns Rassismus begegnet, praktiziert werden muss. Und wir als Bürger*innen, als Teil des Souveräns haben die Verantwortung und die Verpflichtung, Art.1 GG, die Würde ausnahmslos jedes Menschen zu schützen. Also braucht es mehr Mut, nicht nur von der Politik, um strukturellen Rassismus aufzuarbeiten und zu unterbinden, sondern von uns, die Rassismus als Unbeteiligte erleben und bislang weggeschaut haben. Zivilcourage braucht es, um als Privilegierte, den unterdrückten Gruppen in diesem Land zu zeigen, dass wir bereit sind, für ihre Würde einzustehen.

 

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