Nach 70 Jahren Europa; eine neue alte Idee für die Zukunft!

Ein Kommentar von Bernhard Schüßler

Am 9.5.1950 präsentierte Robert Schuman, der Französische Außenminister einen tollkühnen Plan. Die Kohle und Stahlproduktion Deutschlands und Frankreichs sollte vergemeinschaftet werden. Das Minimalziel, keine Wiederholung des Weltkrieges zu erleiden, sollte durch einen gemeinsamen Markt für kriegsnotwendige Industrien erreicht werden. Die Länder dieses Bündnisses, zu Beginn neben Frankreich und Deutschland noch Italien und die Benelux-Länder, sollten laut Vertrag zudem eine unabhängige und den Staaten höher gestellte Exekutivinstanz, einen unabhängigen Gerichtshof sowie eine parlamentarische Vertretung der Länder, befürworten. Das war ein einmaliger Vorgang, die Geburtsstunde Europas, denn noch nie hatten Staaten eigene Kompetenzen an eine unabhängige, ihnen übergeordnete Institution abgegeben.

Nur 5 Jahre zuvor kam der traurige Höhepunkt einer Deutsch-französischen Erbfeindschaft und einer zerstörerischen Ideologie zum Ende. Die Wiege des Humanismus lag damals in Trümmern. Verursacht durch eine Doktrin, die zunächst ein ganzes Land angesteckt und dann eine ganze Welt vernichtet hat. Wie sollte man das wieder aufbauen? Wenn man bedenkt, dass es eben jener fruchtbare Boden nach einem Weltkrieg war, der es den Nazis ermöglichte, den Hass in den Menschen noch zu mehren.

Frankreich machte den ersten Schritt. Das Land, das am stärksten seit Generationen mit Deutschland in Konflikt stand, wollte die Spirale der Feindschaft beenden. Der von Schuman vorgestellte Vertrag wurde nach langwierigen Verhandlungen am 18.4.1951 unterzeichnet. Der erste Schritt der Annäherung von vielen auf dem Weg zur EU wie wir sie heute kennen.

Im Laufe der Jahrzehnte wuchs die Gemeinschaft. Es kamen mehr Staaten hinzu, die Kooperationsfelder wurden erweitert und die Partnerschaften vertieft. Insbesondere das Deutsch-Französische Tandem war der Motor der Gemeinschaft. Im Zusammenhalt dieser zwei Länder liegt der Schlüssel für den Erfolg der EU und ihr Projekt von Frieden, Freiheit und Solidarität. Die Zahllosen Krisen, die in dieser Zeit aufgetreten sind, haben zu kontroversen Diskussionen zwischen den Mitgliedsstaaten geführt aber sie wurden immer mit demselben Mittel entschärft. Die einhellige Antwort auf eine Krise war immer: Mehr Europa! Allen Teilnehmer*innen war bewusst, dass nur mit weiterer Zusammenarbeit die Krisen der Gegenwart und Zukunft zu bewältigen sein würden. Die Integrationsschübe haben Europa gestärkt und von einer Wirtschafts- zu einer politischen Union gemacht.

Doch seit geraumer Zeit funktioniert dieser Mechanismus nicht mehr. Seit dem Scheitern der EU-Verfassung 2005 sind die Regierungen verunsichert. Rechtsautoritäre Antieuropäer haben an Einfluss gewonnen und versuchen das Europäische Haus anzuzünden. Mit dem Brexit-Beschluss 2016 ist endgültig diese Europäische Gewissheit gebrochen, dass man aus Krisen gestärkt als Gemeinschaft hervorgeht.

Dabei wäre es nicht schwer die EU zu revitalisieren. Alle Krisen, die seit 15 Jahren Europa geschwächt haben ist gemeinsam, dass sie:

  1. Maßgeblich aufgrund von Egoismen nationaler Regierungen verschärft wurden
  2. Durch mehr Europa, leicht zu lösen wären.

Wieso kann man in Griechenland mit antideutschen Aussagen Applaus ernten? Wieso kann man in Deutschland mit finanzpopulistischen Parolen Wahlen gewinnen? Weil wir, die Europäer*innen Europa noch zu wenig als das begreifen was es ist, nämlich ein Geschenk unserer Ahnen und ein Weg, mehr Gerechtigkeit und Freiheit im ganzen Kontinent durchzusetzen. Dass die Bürger*innen sich nicht als Europäer*innen sehen, sich weniger mit der EU identifizieren als mit ihren Nationalstaaten hemmt die notwendigen Schritte der Europäischen Integration. Aus Angst vor Nationalistischen Gruppierungen oder aus wahltaktischen Erwägungen, blockieren die Mitgliedsländer z.B. die Vollendung der Bankenunion, ein Schritt, der die Eurokrise entspannt hätte. Noch immer nicht konnten sich die Staaten zu gemeinsamen Steuersätzen durchringen, um zu verhindern, dass Unternehmen Steuerflucht betreiben; noch immer gibt es keine solidarische Verteilung von Schutzsuchenden Menschen.

Der Egoismus und der Eigennutz mancher Länder gefährdet das Europäische Projekt: Griechenland wird mit den Geflüchteten allein gelassen, Italien und Spanien mit ihren Schulden und ihrer Wirtschaftskrise. Angesichts der Corona-Krise treten diese Mängel noch stärker zutage. Europa ist nur so stark wie es die Mitgliedsländer zulassen, denn in entscheidenden Punkten hat die EU keine Befugnisse, wie beispielsweise im Gesundheitsbereich. Die Vorwürfe der Staaten, die EU würde bei Corona nicht helfen, ist schlichtweg der Versuch, die eigene Verantwortung von sich abzulenken. Viel zu oft ist die EU Sündenbock und Fußabtreter inkompetenter Nationalregierungen. Die ständigen Schuldzuweisungen gegen Brüssel haben Nationalisten zu mehr Macht verholfen und ihre Propaganda wirkt leider. Die letzten Umfragen in Italien, einem traditionell besonders EU-freundlichen Land zeigen, dass die Enttäuschungen über fehlende Solidarität nicht spurlos vergangen sind. 45% der Befragten sagen China sei der beste Partner des Landes, während 52% sagen Deutschland sei der größte Feind. Der Tisch für Salvini ist gedeckt, traurigerweise.

Europa muss sich neu erfinden und seinen Wesenskern wiederfinden

Das Versprechen Europas war Frieden und Freiheit. Leider wurde die Freiheit zu oft nur für Waren und Kapital genutzt, wie die Grenzschließungen der letzten Wochen zeigen. Die Bürger Europas wollen längst mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft. Sie wollen eine soziale Union. Die EU muss zeigen, dass sie nicht das Konstrukt von Bürokraten und Lobbyisten ist, sondern das Versprechen von individueller Freiheit und universeller Gleichheit für Völker, die gemeinsame Werte und eine tiefe Freundschaft verbinden. Der Glaube, dass Gemeinschaft lohnenswerter ist als Konfrontation, muss wieder Teil der Europäischen DNA werden, wie ihn Schuman hatte als er vor 70 Jahren auf Trümmer blickte und eine bessere Zukunft sah. Hass erlebte und doch von Freundschaft sprach. Lasst uns diese Zuversicht haben; lasst uns die Grenzen in unseren Köpfen sprengen, die unsere Sicht blenden und unser Denken hemmen; lasst uns nie wieder den Stimmen Gehör schenken, die die Menschheit an den Rand des Abgrundes gedrängt haben; lasst uns von einer Vision sprechen, die wir für das neue Europäische Projekt haben, denn dieses Projekt ist noch lange nicht abgeschlossen.

 

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